Hat die fehlende „genetische Verbindung“ zwischen Vater und Kind zwangsläufig einen negativen Effekt auf die Eltern-Kind-Beziehungsqualität in einer DI-Familie?

Oder: Kritische Anmerkungen zum Text „Psychologisches“ des Vereins „Spenderkinder“

  1. Vorbemerkungen und Einführung ins Thema:

In kritischen Beiträgen und Meinungsäußerungen über die Samenspende, wird der fehlenden „genetischen oder biologischen Verbindung“ zwischen dem (sozialen) Vater und dem Kind eine zentrale Rolle zugewiesen. Stellvertretend sei hier auf den Text „Psychologisches“ vom Verein „Spenderkinder“ auf ihrer Webseite hingewiesen (Stand 2017). Dort werden verschiedene Konsequenzen nachgezeichnet, die mit einer Familiengründung mithilfe von Spendersamen aus deren Sicht „unweigerlich“ einhergehen.

Aufgrund des Fehlens einer natürlichen „genetischen Verbindung“ befände sich das entstandene Familiensystem in einem Ungleichgewicht und die gesunden normalen Verhältnisse würden auf den Kopf gestellt werden. Es wird das Bild eines hoch problematischen Projektes gezeichnet, mindestens waghalsig, wenn nicht gar verantwortungslos. Die Eltern würden, wie an anderer Stelle behauptet wird, eigentlich nur ihre Interessen verfolgen und dies auf Kosten ihrer noch ungeborenen Kinder, wodurch sie sich als Eltern von vornherein eigentlich schon disqualifizierten. Ich zitiere hier eine kleine Auswahl von Statements aus dem oben genannten Text „Psychologisches“:

  •  „Er (der soziale Vater, d.V.)  kann sich seiner Beziehung zum Kind nicht sicher sein, wie Mutter und biologischer Vater, weil keine biologische Verbindung besteht“.
  • „Ein Kind, das durch eine Samenspende entsteht, ist nicht das eigene Kind, ist NICHT ECHT im Sinne von genetisch verwandt, und wird es auch nicht werden (gemeint ist wohl ein „echtes Kind“, d.V.)“
  • „…. Er (der soziale Vater, d.V.) kann sich der Verbindung zum Kind nicht sicher sein.“
  • „Der Vater wird bedürftig gegenüber dem Kind.“
  • „So befindet sich das Kind in einer emotional extrem machtvollen Position gegenüber dem sozialen Vater, die die Eltern-Kind-Rolle umkehrt.“
  • „….die familiensystemisch unausweichliche Rollenumkehr bei einer Familiengründung zu dritt…“
  • „Aus Sicht des Vereins Spenderkinder sollten Familiengründungen mit Samenspenden aufgrund der ethischen Aspekte und familiensystemischen Zusammenhänge nicht aktiv gefördert werden oder ein Unbedenklichkeitsattest erhalten“

Als Vater einer Tochter, die mit Hilfe einer Samenspende gezeugt wurde, will ich diesen negativen Prophezeiungen aufgrund der fehlenden „genetischen Verbindung“ etwas entgegensetzen. Dabei werde ich nicht die längst vorliegenden empirische Studien referieren, die zeigen, dass die Qualität der Bindungen innerhalb der DI-Familien nicht problematischer ist als in anderen Familien; und auch nicht persönliche Anekdoten aus dem Familienleben als Gegenbelege auflisten. Ich möchte mit diesem Text vielmehr eine Replik auf die im Kern biologistische Denkweise formulieren, die so gerne gegen die Familiengründung mit Hilfe von Spendersamen, ins Feld geführt wird.

Dazu befasse ich mich in Abschnitt 2.) zunächst mit dem Begriff der „genetischen Verbindung“ und ich werde zeigen, dass dieser Begriff an der Wirklichkeit vorbei geht und in die Irre führt; ich will dann nachzeichnen, warum das aktive Hinweisen und Hervorheben auf genetische Verwandtschaft (nicht Verbundenheit) durch das schöne Ritual des Suchens und Betonens von Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Kind gut geeignet ist, eine psychologische Bindung von Kind und Eltern mit aufzubauen. Das bedeutet aber nicht, dass eine genetische Verwandtschaft und phänotypische Ähnlichkeit eine notwendige oder gar hinreichende Voraussetzung für eine erfolgreiche Bindung zwischen Eltern und Kind darstellt. Genetische Verwandtschaft zu einer notwendigen Bedingung für den Aufbau einer Vater-Kind-Bindung zu machen, wäre purer Biologismus.

Unter Punkt 3. gehe ich auf zwei Diskussionsfelder ein (Familiendynamik und Identität des Kindes) bei denen aus meiner Sicht, die Spenderkinder in ihren kritischen Einwänden und negativen Prophezeiungen im Kern biologistisch argumentieren, es aber vermeiden, diese Prämisse ihrer Überlegungen eindeutig auszusprechen.

2. Die biologisch (biologistisch) geprägte Herangehensweise

Eine „genetische Verbindung“ gibt es nicht!

Nehmen wir den Begriff „genetische Verbindung“ für bare Münze und versuchen diese Verbindung in der fassbaren Welt zu finden, so wird sehr schnell klar, dass es eine „genetische Verbindung“ zwischen zwei Menschen gar nicht geben kann. Wie sollte diese aussehen, es gibt keine molekularen Brücken zwischen dem Genom eines Individuums mit dem Genom eines anderen Individuums, es gibt auch keine, den elektromagnetischen Feldern analogen biomagnetische Felder, die eine Verbindungsfunktion übernehmen würden. So stellt sich die Frage was sich eigentlich hinter dem suggestiv so unmittelbar einleuchtenden Begriff der „genetische Verbindung“ verbirgt.

Dieser Begriff basiert letztlich auf einem Kategorienfehler oder, freundlicher formuliert, einer Kategorienvermischung und es ist wichtig, sich diesen Punkt genau vor Augen zu führen. Die Begriffe aus der Psychologie (Bindung und Verbindung) wird mit einem biologischen Begriff (genetisch) zusammengeführt, so dass der Eindruck erweckt wird, das Eine (Gene) führe automatisch zum Andern (Bindung), und darüber hinaus: Bindung würde gleiche Gene voraussetzen. Doch die Genetik gehört in die Biologie, Bindung zur Psychologie und diese zwei Wissenschaftsbereiche sind nicht einfach ineinander überführbar.

Die Verfechter der „genetischen Verbindung“ würden vielleicht schnell zugestehen, dass es natürlich im strengen Sinne keine „genetische Verbindung“ gibt und dass es kleinlich und pedantisch sei, gleich alles wortwörtlich nehmen zu wollen. Aber unleugbar und eigentlich gemeint sei ja die zentrale Rolle der genetischen Verwandtschaft und deren unmittelbare Auswirkungen.

Nur kurz angemerkt: Alle Menschen teilen 99,9 % ihrer Gene miteinander, das wissen wir, und wir wissen auch, dass genetisch Verwandte eine im Promillebereich höhere Übereinstimmung in ihrem Genom haben als Nicht-Verwandte. Die Frage bleibt also: wie und in welchem Ausmaß soll die genetische Verwandtschaft zur Bindung und Verbundenheit zweier Individuen, z.B. Vater und Kind beitragen?

Bindungsstreben

Es wurde deutlich, dass es eine „genetische Verbundenheit“ im biologischen Sinne nicht gibt und dass auch das Faktum einer genetischen Verwandtschaft nicht aus sich heraus und unmittelbar Verbundenheit und Bindung aufbaut. Dazu gehört schon mehr.

Doch ein Schritt zurück: Wie kommt es denn eigentlich zum Aufbau von Bindung zwischen Menschen, wie sie sich in Familien und anderen sozialen Gemeinschaften realisiert? Als erstes können wir von einem als universell anzusehenden Drang und Wunsch des Menschen ausgehen, emotionale Bindungen einzugehen, sich verbunden zu fühlen, Teil einer sozialen Einheit zu werden und zu bleiben. Gelingt ihm dies, dann gewinnt er Sicherheit und ein positives Lebensgefühl. Die Bindungen zu Vater und Mutter haben hier noch mal einen ganz besonders hervorgehobenen und wichtigen Stellenwert, weil das Kind ganz vital abhängig ist und für eine gute Entwicklung darauf angewiesen ist und sich noch nicht alleine in der Welt bewegen kann.

Es braucht passende Antworten auf das Bindungsstreben

Bindungsstreben ist eine Grundvoraussetzung von Bindung, es braucht noch weitere zu erfüllende Bedingungen, damit dann auch erfolgreich sich ein Bindungsgefühl beim Kind etablieren kann. Diese notwendigen zusätzlichen Bedingungen sind je nach Lebensphase anders gewichtet. In der frühesten Kindheitsphase ist Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit der Eltern ein zentrales Element; die Eltern geben dem Bindungsstreben des Kindes eine Antwort und lassen es sich so entwickeln. So gewinnt das Kind ein Gefühl der Verbundenheit, der Sicherheit und des Urvertrauens. Dies ist ein Prozess auf Gegenseitigkeit, so dass auch auf Seiten der Eltern das Gefühl der unbedingten Verbundenheit sich beständig weiterentwickelt.

An Bindung wird ständig von beiden Seiten gearbeitet

Liebe und Zuneigung bleiben stets zentral, jedoch wird in späteren Phasen dieser Bindungsprozess zusätzlich und zunehmend kognitiver oder mentalistischer gestaltet. Er vermittelt sich dann über Sprache, den Austausch von Werten, Sichtweisen auf die Welt, gelebte Kultur, Vorbildsein der Eltern, Nachahmen der Kinder etc. Ziel dieser Co-Entwicklung ist, sich immer wieder aufs Neue die verbindenden Gemeinsamkeiten gegenseitig zu bestätigen, sich als zusammengehörig zu erleben und dies zu validieren. Dies ist ein zweiseitiger, kooperativer Prozess von Eltern und Kind. Hierdurch wird die gegenseitige Bindung ständig neu (re)konstruiert, „aufgefrischt“ und verfeinert.

 Das Missverständnis

Nichts scheint mehr für dieses Projekt des sich Bindens geeignet zu sein als der Verweis und Rückbezug auf die genotypischen und phänotypischen Übereinstimmungen, sprich genetische Verwandtschaft und die Ähnlichkeit von körperlichen und charakterlichen Merkmalen. Wir kennen das schöne Spiel: Freunde und Verwandte versuchen herauszufinden, welche Eigenschaft, Merkmal das Kind vom Vater hat, welches von der Mutter, wie genau die Familienähnlichkeit sich zeigt. Das dieses Spiel nicht in gleichem Maße von Eltern nach Samenspende gespielt werden kann, wird oft gleichgesetzt damit, dass auch keine Bindung, wie zum genetischen Vater entstehen könne. Dies ist ein Missverständnis: Bindung entsteht nicht durch die genetische Verwandtschaft per se, sondern über einen Co-Entwicklungsprozess, durch den das Bindungsstreben beantwortet wird und Nähe, das Gefühl von Verbundenheit, also Bindung konstruiert wird.

Das Reden über Ähnlichkeiten und „das hat er von dieser Familienseite“ ist in unserer Gesellschafft hoch eingeübt und zurecht universell verbreitet. Es ermöglicht über das Reden von Ähnlichkeit, eine Bestätigung durch das soziale Umfeld abzurufen: die Familie wird als zusammengehörende Einheit wahrgenommen, akzeptiert und sozial bestätigt: man könnte auch sagen, sie erhält den gesellschaftlichen Segen, sie darf sich jeweils als Vater, Mutter und als Familie identifizieren. Familien nach Samenspende wissen, wie kostbar und wertvoll dieses Signal aus der Gesellschaft ist: wir haben diese Option leider nicht, erhalten nicht automatisch den Segen und die Validierung und müssen uns gegen den Vorwurf wehren, uns Elternschaft, bzw. Vaterschaft anzumaßen, wo doch biologisch keine Vaterschaft vorliegt. Und sehr schnell wird mit dem Ziehen dieser biologischen Karte dann auch die biologistische Schlussfolgerung nahegelegt: wo kein biologisches Substrat, da auch keine gesunde Verbindung.

Bindungsprozess ist offen

Der Bindungsprozess ist offener als die Spenderkinder nahelegen oder suggerieren. Das entscheidende ist, dass der Mensch als soziales Wesen danach strebt, sich verbunden zu fühlen, Verbindungen und Bindungen aufzubauen. Nun hat in unserer derzeitigen Welt der Bezug auf Biologie, Genetik und Ähnlichkeit eine hohe Überzeugungskraft. Eine Verbundenheit durch das spielerische Nachforschen und Druchdeklinieren von Ähnlichkeit im familiären Rahmen ist naheliegend, legitim und nachvollziehbar. Ein Fehler wäre aber zu glauben, man lege mit dem Nachforschen und Deklinieren das Substrat frei, die Grundlage für Bindung. Und wer dies nicht ebenso erfolgreich tun könne, dem fehle eben etwas Substantielles in seiner Familie.

Es ist jedoch möglich, Bindung und Verbindung ohne Bezug auf ein biologisches Fundament aufzubauen; Bindung ist ein konstruktiver Prozess, kein biologisches Merkmal. Es gibt möglicherweise keine Zeit im Leben, in der Menschen mehr bereit sind, sich auf Bindung für lange Zeit einzulassen, als in der Kindheit, und zwar von beiden Seiten aus, von Eltern als auch Kindseite her. Auch wenn eine weitere Promille Übereinstimmung fehlt, ist aus Sicht des Vaters entscheidend, dass er bewusst diese Entscheidung, Vater werden und sein zu wollen verantwortungsvoll trifft, bereit ist, sich voll und ganz auf den jahrelangen Co-Konstruktionsprozess gegenseitiger Bindung emotional einzulassen. Es geht dabei, wie in bei anderen Vätern auch, um einen Sprung in die väterliche Verantwortung und dass man sich in seiner Liebe zum Kind nicht beirren lässt. Dazu kommen weitere, diesen Prozess unterstützende Haltungen und Grundentscheidungen: das gemeinsame Leben an bindungsstiftenden Neigungen und Talenten der Familienmitglieder auszurichten, die Entscheidung füreinander immer wieder neu mit Leben zu füllen, die als selbstverständlich gefühlte und gelebte Zugehörigkeit zu einer Familie vor Erosion und Angriffen von außen zu beschützen: Familie, in die man hineingeboren wurde, auch wenn genetisch z.B. zum Vater keine Verwandtschaft besteht.

Noch ein persönliches Wort

Eines sollte auch den „Spenderkindern“ klar sein: Gerade, weil wir Väter aus DI-Familien uns nicht selbstverständlich auf genetische Verwandtschaft berufen können, wäre vieles leichter, wenn man nicht von außen ständig in Frage gestellt werden würde. So als tue man etwas Ungehöriges und als ob Außenstehende sich moralisch das Recht herausnehmen dürften, uns unter Rechtfertigungsdruck zu setzen. Wir könnten es auch folgendermaßen zusammenfassen: Wenn schon kein „Segen“ durch die „Spenderkinder“ zu erwarten ist, dann sollten sie uns wenigstens keine negativen (sich selbst selbsterfüllenden?) Prophezeiungen nachrufen. Wir DI-Väter wissen, vor dieser Vaterschaft muss man sich nicht Bange machen lassen, viele Familien sind unter ganz anderen, noch weniger optimalen Bedingungen Ihren Weg erfolgreich gegangen. Die Unkenrufe scheinen manchmal für uns Familien erst die Probleme entstehen zu lassen, vor denen gewarnt wird: eine Infragestellung von außen kann nach innen Identitätsprobleme schaffen, die dann der DI Familiengründung angelastet werden.

In den nächsten Abschnitten gehe ich auf weitere kritische Einwände der „Spenderkinder“ ein, die sie an der Familiengründung mit Spendersamen haben. Dabei findet sich, teils versteckt, wieder die biologistische Karte, die sich so wunderbar eignet, der Familiengründung mit Spendersamen ihre ethische und psychologisch-unbedenkliche Legitimation abzusprechen.

3.) Ein unausweichlich gestörtes Familiensystem?

Die biologistische Grundthese wird hier gegen das Familiensystem von DI Familien in Stellung gebracht. Es wird folgendermaßen argumentiert: da es kein biologisches Fundament für die Vaterschaft gibt (keine genetische Verbindung“), entstehen unausweichlich(!) Schiefstellungen und Verdrehungen in den Familien. Der Vater wird das schwächste Element in der Familie, Eltern-Kind-Rollen verkehren sich, das Kind wird Behüter des schwachen Vaters, der Vater, verunsichert in seiner Rolle, wird zum Sorgenkind des Kindes.

Diese Beschreibungen lesen sich wie eine Abrechnung im doppelten Sinne: eine Abrechnung mit diesen unverantwortlichen Eltern, die nicht wissen was sie tun; und im zweiten Sinne zeigt sich eine sonderbare psychologische, wie ich finde, unprofessionelle Denkweise: es wird so getan, als könne man aufgrund der fehlenden genetischen Verwandtschaft eine Störung in der Familie einfach errechnen, zwingend herauskombinieren, so, als sei die Psychologie eine Rechenangelegenheit. Viel schlimmer wiegen allerdings 2 Grundhaltungen, die sich im Text wiederfinden: Dadurch erhält der Text „Psychologisches“ der „Spenderkinder“ mehr den Charakter eines Pamphlets als den eines ernstzunehmenden psychologischen Fachbeitrages.

Erklärung und Vorhersage

Psychologische bzw. psychotherapeutische Theorien versuchen meist Störungen zu erklären, und im Nachhinein verständlich zu machen. Therapeuten sollen damit Ihre Mustererkennung für dysfunktionale Abläufe schärfen können. In diesem Text wird aber so getan, als erlaubten die psychotherapeutischen und systemischen Analysen eine Vorhersage von Störungen: so als laufe da ein determinierter Prozess ab, den man an Vorzeichen voraussagen könne. Wer therapeutisch arbeitet, weiß, wie schwierig es ist, Verläufe von familiären Entwicklungen genau voraussagen zu können. So zu argumentieren ist im Kern eine unpsychologische Grundhaltung. Dies erinnert an Fehlentwicklung in der Schizophreniefroschung: da man bei bestimmten Fällen einen Beitrag der Mütter auszumachen glaubte („schizophrenogene Mutter“) führte dies zu einem Generalverdacht gegen und zur Stigmatisierung aller Mütter, die schizophrene Kinder hatten. Anders formuliert: dass sich bestimmte Konstellationen einstellen können bedeutet nicht, dass sie notwendigerweise eintreten werden. Die Analysen, die im Text „Psychologisches“ angestellt werden, sind ja nicht falsch, weil es so was nie und nimmer geben könnte; sie sind falsch, weil sie wie Gesetzmäßigkeiten präsentiert werden, die eindeutige Verläufe erwarten lassen.

Der Mensch vermag auf Herausforderungen zu reagieren

Ein weiterer Umstand wird im Text „Psychologisches“ übersehen: In der Analyse wird überhaupt nicht für möglich gehalten, dass Menschen auf Themenstellungen und Herausforderungen flexibel und adaptiv reagieren. Viele Themen, die im Text angesprochen werden, sind, wie schon geschrieben, durchaus auch nachvollziehbar und Familien nach Samenspende tun gut daran, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Doch gibt es gerade dann keinen Automatismus mehr. Die Autorin(?) scheint nicht zu glauben, dass ein erfolgreicher Umgang und Bearbeitung dieser Themen möglich sind: Warum sollten Väter nicht an folgenden Punkt kommen und authentisch vertreten:  ich bin zwar nicht der genetische Vater aber ich werde dadurch nicht zum Sorgenkind meines Kindes und ich übernehme die volle väterliche Verantwortung. Ich vermute, dass diese Möglichkeit deshalb übersehen wird, weil man dem biologistischen Denken verhaftet bleibt: da es keine genetische Verbindung gibt und das nicht zu ändern ist, können gewisse Problematiken sich nie auflösen und kuriert werden.

4.) Identitätsproblematik?

Oft wird den Kindern, die aus Samenspende gezeugt wurde, eine baldige Identitätsproblematik prophezeit. Auf der einen Seite ist eine solche Vorhersage ein sicherer Tipp, da sich fast die meisten Kinder, spätestens im Zuge ihrer Pubertät, mit schwierigen Identitätsfragen herumquälen, selbst da, wo die genetische Vaterschaft außer Frage steht. Die spezifische Identitätsproblematik im Themenfeld der Samenspende wird wieder biologistisch begründet: da es keine biologische Verbindung zum Vater gibt, und Identität an die genetische Grundausstattung und das Wissen um sie begründet ist, bleibt bei den Kindern eine schmerzliche Leerstelle in ihrer Identität.

Identität ist nicht festgelegt

Bei dieser Herangehens- und Sichtweise wird immer so getan, als sei von vornherein klar, was zu einer problemfreien Identität gehört. Als sei feststehend, welche Grundelemente zu jeder gesunden Identität gehören, und sie bestünde aus einer Liste, die für jeden gleich ist und gleich gewichtete Unterpunkte enthält. Fehlt jemandem Wissen über diejenigen, mit denen er genetisch verwandt ist, bekommt er ein Identitätsproblem, weiß er um die fehlende genetische Verwandtschaft mit den Menschen, mit denen er eine Familie bildet, dann bekommt er ein Identitätsproblem. Aber die Ausformung der eigenen Identität ist meist sehr individuell gestaltet und man kann nicht vorschreiben, was wichtig ist und was nicht.

Identität entsteht durch Auseinandersetzung mit der Außenwelt

Identität ist kein statisches Ding, das festgeschrieben ist; Identität ist im Fluss und hat eine zweiseitige, soziale Natur und gestaltet sich immer an der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich. Die Identität kann bei ein und derselben Person sich durchaus unterschiedlich gestalten, je nach dem in welchem sozialen Kontext sie sich gerade befindet. Als Katholik in seinem kleinen Dorf wird mein Katholisch-Sein für meine momentane Identität vielleicht nicht spürbar und salient sein, befinde ich mich in einer Moschee, wird sie möglicherweise als wesentlicher Teil meiner Identität erlebt. Identitätsprobleme sind meist vorübergehender Natur, sie markieren einen innerpsychischen Anpassungsprozess aufgrund einer kognitiven Entwicklung oder einem Konflikt in der Außenwelt. Man denke hier an Max Frischs Andorra, in der der Einfluss des sozialen Umfeldes auf die Ausbildung einer Identität eines Individuums mustergültig nachgezeichnet ist.

Identität auch über eine selbstbestimmte Wahl

In einer freiheitlichen Gesellschaft gibt es einen Entscheidungsspielraum dafür, mit was man sich identifizieren will, was man zum Hauptaspekt seiner Identität machen will; Identität ist aufs Engste mit den eigenen Werten und Idealen verknüpft aber auch mit den Werten und Idealen der Gesellschaft, in der ich lebe. Daraus kann ein Konflikt entstehen oder Harmonie bei meiner Entscheidung, wie ich mich sehen will (Identität). Legt eine Gesellschaft großen Wert auf die Abstammung, wird dieser Aspekt meines Lebens betont, dann ist das Verwandt-Sein ein hoher identitätsstiftender Umstand, legt eine Gesellschaft hohen Wert auf Leistung oder soziales Verhalten, dann werden andere Merkmale des eigenen Lebens identitätsstiftend.

Identität und genetisch verwandt

Die Identität von vornherein an Themen der genetischen Abstammung zu binden, genetische Verwandtschaft eine Hauptrolle bei der Ausformung der Identität zu zugestehen, stellt, wie schon mehrfach gesagt wurde, einen biologistischen Schachzug dar. Das komplexe psychische Innenleben und Entwicklung hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und kann nicht einfach auf biologische Fakten reduziert werden, bzw. von diesen abgeleitet werden. Bisher wurden keine überzeugenden Gründe dafür geliefert, warum eine fehlende genetische Verwandtschaft zwischen einem Vater und seinem Kind zwangsläufig eine Identitätsproblematik hervorrufen müsse.

Nature vs Nurture

Vermengt und konfundiert ist das hier reflektierte Thema „genetische Verbundenheit“ mit der „nature vs. nurture“ Debatte. Mittlerweile scheint das Pendel in dieser Frage wieder mehr in Richtung einer „Die Gene sind es“ -Einschätzung auszuschlagen. Doch hat diese Debatte eigentlich keine argumentative Kraft bezogen auf die Frage einer gelingenden Vaterschaft bei fehlender genetischer Verwandtschaft! Kurz gesagt: Egal ob Gene bei der Vererbung die entscheidende Rolle spielen (lassen wir Fragen der Epigenetik mal außen vor), dies legt nicht fest, ob eine Elternschaft mit einer tragfähigen tiefen Bindung zwischen Kind und Elternteil entsteht oder nicht!

5. Fazit:

Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: Hat die „genetische Verbindung“ von Samenspender und Kind, zwangsläufig einen negativen Effekt auf die Eltern-Kind-Beziehungsqualität in einer DI-Familie?, so kann und muss man diese Frage mit Nein beantworten.

Es gibt keine zwangsläufigen negativen Effekte, diese ließen sich nur begründen, wenn man die biologistische Grundannahme akzeptieren würde. Dafür aber gibt es keine guten Gründe, schon allein deshalb nicht, weil sich naturwissenschaftliche Zusammenhänge nicht einfach in den psycho-sozialen Bereich übersetzen lassen. Die Konstrukte der Psychologie wie Bindung und Identität, Familiendynamik sind nicht auf biologische Fakten reduzierbar.

Trotzdem haben wir DI-Familien mit den negativen Folgen solcher biologistischen Argumentationen zu kämpfen, weil sie eine Stigmatisierung anheizen und unsere Familien unter einen Generalverdacht stellen: wer den Weg der Familiengründung mit Samenspende für sich wählt, setze seinen Kinderwunsch egoistisch, rücksichtslos und auf Kosten seiner Kinder durch.

Im Laufe der Auseinandersetzung mit ihrem Text habe ich mich gefragt, ob die Überschrift „Psychologisches“ eigentlich richtig gewählt ist. Dreh und Angelpunkt der Argumentation ist stets die fehlende genetische Verwandtschaft, die sich zwangsläufig negativ auswirke, egal wie sehr die Eltern sich anstrengen oder vorbeugen oder an diesem Thema arbeiten. Psychologie nach meiner Lesart betont, dass wir lernen können und menschliches Leben, sowohl auf psychischer als auch sozialer Ebene ein weitgehend offener Prozess ist, dem man durch Festschreibungen nicht gerecht wird.

U.S.